Gerhard Richter: Ohne Titel (Untitled), 1977, 15 cm x 20 cm, Watercolour on paper

 

NN

1.

In meinem neuen Leben war mir Dr. K. ein vertrauter Begleiter geworden. Obwohl wir uns nie begegnet waren, hatte ich den Klang seiner Stimme beständig im Ohr. Wie schwer sich eine Geschichte aufschreiben lässt, wenn der Sprachfluss eines unsichtbaren Erzählers ihren Fortgang bestimmt, war für mich die erste große Überraschung unserer Bekanntschaft. Vom laufenden Band seiner Berichte fielen die Worte Brocken für Brocken vor meine Füße und wurden zu Stolperfallen, obwohl ich sie kommen sah. Und im Gegenlicht der Angst vor dem Hörfehler verhüllte der Schatten des Unverständlichen die vertraute Gestalt des Altbekannten. Erst allmählich und weil Dr. K. es mir mit dem immer gleichen Gefüge seiner Aufträge leicht machte, konnte ich mich am Ende an die Schwingung seiner Sätze, seine Wortwahl und seine Aussprache so weit gewöhnen, dass ich nicht jedes Wort mit Anspannung erwartete, sondern mit zunehmender Gelassenheit immer leichter Zugang zu seinem Erzählrhythmus fand und gleichsam über die einzelnen Worte hinweg in seine Rede hineinhörte. Es wäre nicht meine Aufgabe gewesen, mich für die Geschehnisse und Menschenschicksale zu interessieren, die Gegenstand seiner Beobachtung waren. Meine Beziehung zu Dr. K. war fern, berührungslos und vom geschäftsmäßigen Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer bestimmt. Ich war Mittel zum Zweck und meine Arbeit ein so notwendiges, wie für den Fortgang der Dinge unbedeutendes Bindeglied zwischen seinem fachkundigen Urteil und dem Kreis seiner eigenen, nur selten erwähnten Auftraggeber. Und doch forderte mein Einsatz nach und nach ein Recht auf Beteiligung: Mit der Zeit wurde ich ebenso neugierig auf die Individuen, die den Berufsalltag von Dr. K. bevölkerten, wie auf deren Lebensgeschichten, die mir jedes Mal aufs Neue vorkamen, als wären sie nicht wahr, sondern hätten ihren Ursprung in der mir unzugänglichen Fabulierkunst eines fantastischen Erzählers. Noch mehr aber war es die Präzision seiner Bewegung durch die Mannigfaltigkeit von Daseinsräumen, mit der mich Dr. K für sich einnahm, der scheinbar mühelose Wechsel zwischen der uns verbindenden Dimension und dem Wirklichkeitsgefüge seiner Gesprächspartner, seine Fähigkeit, Brücken zu bauen zwischen unvereinbaren Welten, dabei stets eine verbindliche Haltung und gleichzeitig geübte Distanz zum Strudel kaum fassbarer Ereignisse wahrend.

 

2.

Zielsicher, als sei er hier zu Hause, geht Dr. K. voran, öffnet die Tür und lässt seinem Probanden den Vortritt. Halb verdeckt von der unscharfen Gestalt an seiner Seite verharrt er kurz, ein älterer Mann, ganz wie es die gängige Vorstellung verlangt, mit eigentümlich wilder Haarmähne und runder Brille, seltsam vorgebeugt, auf die Klinke in seiner Hand gestützt, während sein Begleiter sich fast zu viel Zeit lässt, um in den Raum zu kommen. Beinahe fürchte ich, Dr. K könnte vornüber aus seiner entgegenkommenden Geste kippen, da ist der Andere endlich über die Schwelle und gibt den Durchgang frei. Im Zimmer steht ein runder Tisch, im Umkreis unpassend viele Stühle. Die beiden Männer orientieren sich, verharren einen Moment bewegungslos oder vielleicht ratlos im Raum, fast als hätten sie sich in der Tür geirrt oder als vermissten sie ein Publikum, das eben noch hier versammelt gewesen sein und erst kürzlich seine Sitzplätze verlassen haben mochte. Von den beiden unbemerkt lasse ich mich an meinem Arbeitsplatz nieder, wie gewohnt auf einem alten Stuhl, nicht für langes Sitzen gemacht, mit verbeultem Polster von meinen ewig untergezogenen Beinen und einem wackligen, unter seiner unruhigen Last ächzenden Gestell. Raum und Zeit gehören mir, für meine Besucher, lebhafte Bilder meiner Imagination, bleibe ich unsichtbar, ein Geist im Niemandsland ohne Anrecht auf Teilnahme und Meinung. Und doch hat mich der eine von ihnen hinzugebeten und wird mich für meine Aufmerksamkeit bezahlen, während der andere meine Anwesenheit zweifellos unpassend fände, wäre er sich ihrer bewusst. Denn er wird hier von seinem Leben erzählen, nicht alles, nur das, was er eben muss, was der Spezialist ihm wird entlocken können, vielleicht nicht, um als Mensch das Geschehene zu verstehen, sondern um sich als Fachmann ein Bild zu machen, um die Kräfte zu ermessen, die seinen Probanden angetrieben, die Schwingung des Wahrscheinlichen im Wirklichen eingefangen und die Ereignisläufe im Zielpunkt einer strafrechtlich relevanten Tat gebündelt haben. Ich werde mich also zurücklehnen, zuhören, unerkannt meine Arbeit verrichten und im Vertrauen auf Netz und doppelten Boden heimlich erschauernd über den Abgründen fremder Leben balancieren.

 

3.

Biografische Angaben

Sein Name sei Georg D., er sei am 07. März 1963 in Bukarest geboren. Bukarest sei die Hauptstadt von Rumänien, er müsse das betonen, immerhin sei derlei Wissen in den Ratesendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens schon mal ein paar Tausend Euro wert. Seit er im Westen Europas zu Hause sei, habe er die geografischen Kenntnisse seiner Mitmenschen als auffallend lückenhaft erlebt und meine dahinter eine Ignoranz, ja Arroganz zu erkennen, die alle Weltgegenden ohne gebührenden Anteil an den Segnungen eines materiell optimierten Lebensstils ins Abseits der Zivilisation verbanne und in deren Bewohnern die Angehörigen eines bis vor Kurzem noch barfuß laufenden Urvolks vermute. Behördenvertreter, Bankangestellte, Ärzte oder seine Putzfrau, ja sogar seine weltgewandten und mitunter weit gereisten Arbeitskollegen: Sie alle seien in einer seltsam selektiven Unwissenheit vereint und für die meisten von ihnen sei sein Geburtsland ein Ort jenseits des östlichen Ereignishorizonts, der im Schlund eines schwarzen Lochs mit anderen unaussprechlichen Weltgegenden zu einem unübersichtlichen Gemenge verschmelze. Er habe sich wiederholt und völlig beliebig zu den ungarischen, bulgarischen, slowakischen, ja sogar türkischen oder russischen Landsleuten zählen lassen müssen. Nicht nur im Scherz habe man ihn den Abkömmlingen eines wilden Karpatenvolks zugerechnet, dessen Altvordere ihre Gegner gepfählt, ihre Opfer als Untote heimgesucht und ihnen in rauschhafter Gier des Nachts das Blut aus den sich windenden Leibern gesaugt haben. Und später, als die Nebel der Mutmaßung sich in unverhofften Umstürzen scheinbar gelichtet und die Sicht auf den umschatteten Horizont im Osten Europas freigeben haben, sei das Wissen um seine Herkunft in so manchem Gespräch die Projektionsfläche für die Bilder gequälter, von Deprivation gezeichneter Waisenkinder gewesen, die im Vorhof zur Hölle vegetierend zu Symbolen für den Niedergang der Menschlichkeit in einem gescheiterten System totalitärer Repression geworden waren. Doch wie dem auch sei, er sei also in Bukarest geboren und sei, nach drei Töchtern, als einziger Sohn eines Konzertmeisters und einer Primaballerina zur Welt gekommen.

 

4.

Er sei ein ungefälliges Kind gewesen, mager und knochig, mit dicken Knien und Ellenbongen, der kantigen Stirn eines alten Mannes und dichten finsteren Augenbrauen. Überhaupt sei das Dunkle seine Farbe gewesen. Zu seinen frühen Erinnerungen gehöre der forschende Blick seiner Schwestern, die mit staunendem Ernst ein ums andere Mal die Grenze zwischen dem Tiefbraun der Iris und dem Schwarz der Pupille in seinen Augen auszumachen suchten. So lange er zurückdenken könne, habe er mit seinem Aussehen gehadert, sei angstvoll an jedem Spiegel vorbeigeschlichen, den Blick abgewandt, um dem bohrenden Zweifel an der Echtheit seiner selbst zu entfliehen. Es sei ein stetes Kommen und Gehen ungezählter Besucher in seinem Elternhaus gewesen, und es sei mit jedem von ihnen ein dunkles Raunen durch die Räume gezogen, gleichgültig ob Französisch, Deutsch, Ungarisch oder Rumänisch ihre Sprache gewesen sei. Ein bohrender Zweifel schien ihm deutlich jede Konversation zu unterlaufen und am Gefüge der Familie zu rütteln, ein ungläubiges Staunen über die ephebenhafte Tänzerin, die in vier Schwangerschaften nach drei engelhaft blonden Töchtern einen Sohn mit den Zügen eines Zigeuners zur Welt gebracht haben sollte.

 

5.

Rückblickend scheine es ihm, als sei der raunende Spuk seiner Kindheit für ihn allein zu vernehmen gewesen. Niemand sonst habe ein Ohr für das beharrliche Flüstern gehabt, niemand ein Auge für die düsteren Schimären, die ihm immer wieder eine Plage gewesen und bis in seine Träume gefolgt seien. Und doch habe er seine Ängste verschwiegen, habe den beständigen Zweifel mit sich selbst ausgemacht, wohl wissend, dass die Sprache das Elixier des Teufels und die Mitteilsamkeit das Einfallstor des Bösen ins Leben sei. Nichts habe er mehr gefürchtet, als schlafende Hunde zu wecken, nichts weniger gewollt, als mit unüberlegten Fragen den Kreis der Familie aufzubrechen, in dessen Mitte er als jüngstes Kind und einziger Sohn von seinen Eltern mit wohlwollender Wärme umsorgt und von seinen Schwestern neidlos verwöhnt worden sei. In seiner Erinnerung sei seine Kindheit eine Verschränkung von Bildern und Gerüchen. Noch heute habe er die große elterliche Küche vor Augen, die kühlblauen Flammen des klobigen französischen Gasherds, den vom stetigen Gebrauch strapazierten Mokkakocher, dem kaum eine Ruhepause gegönnt gewesen sei. Nach wie vor spüre er die Hitze des bitterherben Kaffeedufts, der so gut wie zu jeder Tageszeit die Wohnung durchzogen habe. Und als sei es gestern gewesen, sehe er die blumig duftenden Freundinnen seiner Mutter vor sich, wie sie im Salon am kleinen Kaffeetisch sitzen, über verbotene, nach glänzender Farbe und frischer Druckerschwärze riechende westliche Zeitschriften gebeugt, in den Händen winzige Mokkatässchen, die zum Abschluss der Runde auf den Kopf gestellt, im Lavastrom des zähen Kaffeesatzes Weissagungen über das Kommende verborgen halten. Und dann sei da das Bild seiner lebhaften Mutter, die rätselhafte Biegsamkeit ihres knabenhaften Körpers und der Schimmer ihrer weißen Haut, der Klang ihrer rauen Stimme und der Duft von feuchtem Gartenboden nach einem sommerlichen Regenguss, der ihr auf Schritt und Tritt zu folgen schien.

 

6.

Er sei mit Bedacht und Hingabe erzogen worden. Über die Bedeutung der Musik müsse er in diesem Zusammenhang wohl gar nicht reden: Sie sei in seiner Familie keine Pflicht, sondern alltägliche Lebensnotwendigkeit gewesen. Für ihn selbst sei die musikalische Erziehung gleichwohl zu einem ersten frühen Scheitern geraten. Es sei ihm keine Handhabe gegeben für die stoffliche Verwandlung der Notenschrift in die gezähmte Schwingung des musikalischen Klangs. Er sei nie in der Lage gewesen, physikalische Gesetzmäßigkeiten mit affektivem Ausdruck anzureichern und zu Kunst zu transzendieren. Die Unzulänglichkeit im Umgang mit Geige und Klavier sei ihm letztlich nur ein weiterer Beweis für das Fremdsein unter den begabten Mitgliedern seiner Familie gewesen. Anders als seine Schwestern, die in Gemeinschaft musizierend durch ihre Kindheit und Jugend zu schweben schienen, sei er erdenschwer in seinen Büchern versunken und habe im selbstgewählten Exil seines Zimmers mit Gregor Samsa das Los der Einsamkeit und des Leidens an sich selbst geteilt. Zwischen den Zeilen seiner Lektüre habe er dann aber doch noch seine eigene Musikalität entdeckt, den feinen Sinn für Rhythmus und Takt in der Struktur eines Satzes und das Gefühl für Wohlklang oder Dissonanz im fortlaufenden Fluss erzählender Sprache. Schon viel früher aber, noch vor der Einschulung und noch ehe er Wort und Sinn entschlüsseln konnte, habe er an der Melodie des Gesprochenen unterscheiden können, ob sich im Wohnzimmer seiner Eltern französischer, ungarischer oder russischer Besuch zum sonntäglichen Kaffee und freundschaftlichen Austausch niedergelassen hatte. Er sei vom fremdartigen Auf und Ab der Stimmen in seinem Ohr derart eingenommen gewesen, dass er lautmalerisch parlierend seine Familie vor allem mit der unermüdlichen Aneinanderreihung französisch anmutender Klanghülsen so lange amüsierte und nicht selten wohl auch enervierte, bis eines Tages, auf Betreiben seines hintersinnigen Vaters, Madame Enescu in sein Leben getreten sei. Sie sei mehrere Jahre lang seine Französischlehrerin gewesen, habe ihn jede Woche zwei- oder dreimal in der elterlichen Wohnung besucht und ihm für die Dauer von mindestens einer Stunde den Zugang zu einer verborgenen, nur über die Brücke der fremden Sprache erreichbaren Welt geöffnet. Er habe eine lebhafte Erinnerung an sie, er sehe sie jetzt noch durch die Türe kommen, unfehlbar zur vereinbarten Zeit, nach einer schier endlosen Trolleybus- oder Straßenbahnfahrt quer durch die Stadt, jedes Mal pünktlich und auf die Minute genau, ein vogelzartes altes Fräulein, eine in die Jahre gekommene Isabelle Huppert mit gebeugtem Rücken und aristokratischen Manieren, mit dem Komponisten George Enescu nicht nur namensverwandt, sondern nicht allzu entfernt familiär verbunden. Wie ihre Garderobe sei auch ihr Esprit, nach einer privilegierten Erziehung in Paris, eine Reminiszenz an die besseren Zeiten vor der erstickenden Drangsal der kommunistischen Diktatur gewesen. Aus ihrer frankophil geprägten Jugend sei eine stetig verblassende Eleganz zurückgeblieben, die sie mit zitternden Fingern zu konservieren suchte und die, zusehends verschwimmend, zur blutroten Spur eines weit über die Lippenränder hinaus und auf ihre winzig kleinen, ebenmäßigen Schneidezähne verteilten Lippenstifts geronnen war.

 

7.

Wenn ich mich recht erinnere, zwang mich watteweiche Taubheit in Ohren und Fingern an dieser Stelle zur Pause. Ein simpler Handgriff genügte, um die Sitzung zu unterbrechen. Die Entscheidung, ihn anzuwenden, lag bei mir – die stille Macht des einsam Arbeitenden. Im Hier und Jetzt schien alles unverändert. Ich versuchte ein paar Schritte, hier ein Glas Wasser, dort die unbeherrschbare Unordnung auf meinem Arbeitstisch, auf den kalten Küchenfliesen mein schwer atmender alter Hund. Was hatte ich erlebt? Nicht viel mehr als eine unerwartet ausreißende Amplitude in der flimmernden Vibration eines drückend heißen Sommertags? Oder die Krümmung des Raum-Zeit-Kontinuums um die Kontur eines durchschlagenden Ereignisses, ein Verlust an Richtung im naiv als geradlinig wahrgenommenen Lauf der Dinge? Eigenanamnestische Angaben in unmäßiger Länge, biografische Hintergründe ohne zielführende Dichte, der forensische Psychiater als Chronist einer ausufernden Lebensbeichte, die Tat – ja, die alles entscheidende Tat – weit aus dem Blickfeld gerückt und ich selbst im Sog des Spiels Jumanji, das mitten auf meinem Schreibtisch das Tor zu einem Paralleluniversum geöffnet hatte: Es schien mir, als hätten die Regeln jedes Maß verloren, als sei das Unterste zuoberst gekehrt und als teilte sich die Wirklichkeit unter dem Brennglas meiner Aufmerksamkeit in einen Viele-Welten-Raum mit einer unübersichtlichen Zahl gangbarer Lebenspfade. Da kam der Anruf von Dr. K.

 

8.

Er müsse sich entschuldigen. Er wolle nicht stören, schon gar nicht meine Arbeit unterbrechen, auf deren verlässliches Ergebnis er diesmal mehr denn je zähle. Der mündliche Kontakt sei uns im digitalen Alltag ja irgendwie abhandengekommen. Er nehme eine produktive Stille wahr, die offenbar gerade dem Überfluss an medialen Kommunikationswegen zu verdanken, aus seiner Sicht aber eine überraschend belastbare Grundlage für unsere Zusammenarbeit sei. Er schätze die Verlässlichkeit dieses lautlosen Einvernehmens, wolle mit meiner Erlaubnis diesmal aber eine Ausnahme machen, weil außergewöhnliche Umstände es erfordern. Er hoffe auf mein Verständnis, er habe es mit einem einzigartigen Geschehen zu tun, einer Singularität, die sich allen Regeln seiner ärztlichen Kunst und seiner hundertfach eingeübten beruflichen Routine mit Nachdruck verweigere. Er sei mit einem sperrigen Fall betraut worden, den er, wie es bisher seine bewährte Gewohnheit gewesen sei, zweifellos mit der kühlen Distanz des Wissenschaftlers früher oder später hätte greifen und zu aller Zufriedenheit zum Abschluss bringen können. Was ein verlässliches Prozedere und tausendmal erprobt sei, scheine ihm diesmal aber aus Gründen, die er als so undurchsichtig wie zwingend empfinde, in die Irre zu führen. Es sei für ihn selbst überraschend, mit welcher Überzeugung er, bei aller eingeübten Vernunft, vom bewährten Pfad abweiche, um eine noch unbekannte Richtung einzuschlagen und seine Untersuchung dem Unerwarteten zu öffnen. Gerade deshalb wolle er sich aber meiner Unterstützung versichern und mich bitten, seine Aufträge so lange mit Vorrang zu behandeln, bis die Sitzungen abgeschlossen und die diesmal so ungewöhnliche Arbeit mit dem Probanden zu einem, wie er hoffe befriedigenden, Ende gebracht sei. Er bitte mich um absolute Termintreue und erhoffe sich gleichzeitig eine minutiöse Genauigkeit im Umgang mit dem Gehörten, er wünsche sich meine volle Konzentration für das Projekt, dem jede andere Aufgabe nachstehen sollte. Nicht zuletzt zähle er wie üblich auf strikte Vertraulichkeit, die ich als unbeteiligt Außenstehende ja auch bisher ohne jede Beanstandung eingehalten habe.

 

9.

Von Gruß und Abschied eingefangen, wird aus dem längsten Monolog ein Gespräch und Dr. K schien sich damit zufriedenzugeben. Seine Worte begleiteten mich zurück an meinen Schreibtisch und die Last bewusster Unterlassung gesellte sich dazu. Meine Verpflichtung zur Verschwiegenheit war gewöhnlich ein Wohlverhalten außerhalb des Geschehens, dahinter, als blasse Formalie, der Persönlichkeitsschutz der Beteiligten. Diesmal jedoch war alles anders: Gleichgültig, ob ich spräche oder schwiege, handelte oder die Dinge geschehen ließe – mein Tun wäre der Doppelspalt im Fluss der Ereignisse, der schmale Durchlass zwischen Vielleicht und Genauso, dahinter Schrödingers Katze oder Aladins Geist, beide da und nicht da, weder tot noch lebendig oder beides zugleich. Was immer Georg D. zu offenbaren hatte, es würde durch den Messpunkt meiner Beteiligung in die Wirklichkeit gelenkt und jedwedes Ende, ob gut oder schlecht, läge in meiner Verantwortung. Dass Dr. K. mir unmittelbar in mein Arbeitszimmer folgte, konnte ich nicht verhindern und musste es fortan als Vorwurf verstehen. Aus den unpassend vielen, im Umkreis verteilten Stühlen suchte er sich zielstrebig den nächsten aus und rückte ihn mir gegenüber an den runden Tisch. Ohne Zweifel: Er sicherte sich die beste Aussicht auf die Kür, auf den unberechenbaren Drahtseilakt in schwindelnder Höhe, die halsbrecherische Artistik auf dünnem Seil ohne den Rückhalt von Netz und doppeltem Boden, den ich selbst aus der Versuchsanordnung gestrichen hatte.

 

10.

Biografische Angaben

Mit ungefähr vier Jahren sei er in Bukarest in den deutschen Kindergarten gekommen, zwei oder drei Jahre später in die deutsche Schule. Ja, es habe sie gegeben, diese Reservate eines kulturellen So- und Andersseins, eingezäunt von einem nivellierenden Totalitarismus, oberflächlich angepasst, unterschwellig subversiv und zunehmend elitär – weniger als identitätsstiftender Mittelpunkt einer störrisch auf ihr Selbstverständnis beharrenden Minderheit denn als Fluchtpunkt eskapistischer Tendenzen einer unter autoritärer Repression verdorrenden Schicht rumänischer Intellektueller, aber auch einer vordergründig linientreuen und doch nur auf ihr Vorteil bedachten Polit- und in der Korruption geübten Wirtschaftselite. Es habe so viele Regeln für die Aufnahme in die deutsche Schule gegeben wie Ausnahmen davon. Und die Frage, mit welchem Recht die Popescus und Ionescus unter seinen Klassenkameraden mit ihm gemeinsam das Privileg des Unterrichts in einer vormals im Dunstkreis der lutherischen Kirchengemeinde gegründeten Lehranstalt beanspruchten, habe ihn nie beschäftigt und sei in seiner Gegenwart zu keiner Zeit ein Gespräch wert gewesen. Natürlich sei die Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit die allgemein vermittelte Bedingung für den Besuch der Schule gewesen. In den übervollen Klassen gehörten Schüler, die mütterlicher- wie väterlicherseits in der deutschen Kultur verwurzelt gewesen seien, gleichwohl zu einer fluiden Minderheit, die unaufhaltsam schrumpfend in den Nationalitätenmix der rumänischen Hauptstadt diffundierte. Wie die filigrane Figur im Mittelpunkt einer Matrjoschka-Puppe sei die deutsche Gemeinde mit ihren Müllers und Kleins, Wagners und Binders eine zerbrechliche Struktur gewesen, die in jeder Generation erodierend von immer neuen Schichten multikultureller Durchmischung überlagert wurde. Zu einem großen Teil seien seine Mitschüler Kinder aus Mischehen gewesen und die familiäre Zugehörigkeit zur deutschstämmigen Bevölkerung habe sich zumindest für ein Elternteil noch nachverfolgen lassen. Mitunter mögen akribische Suchaktionen und eine gewisse Freiheit der Interpretation die geeigneten Referenzen in der Familiengeschichte zutage gefördert haben. In allen anderen, gar nicht so wenigen, stetig zunehmenden, irgendwann vielleicht sogar überwiegenden Fällen seien seine Kollegen aber aus rumänischen Elternhäusern gekommen, ihre Mütter und Väter Kunst- und Kulturschaffende, Wissenschaftler oder Chirurgen, Ingenieure oder Physiker, unter ihnen undurchsichtige Parteikader, mutmaßliche Funktionäre der Securitate oder weitläufig mit dem Herrscherpaar versippte Günstlinge des Regimes. Und dann habe es da noch die Kinder deutscher, französischer, ja sogar japanischer Botschaftsangehöriger gegeben, buntgekleidete Farbkleckse im blauuniformierten Schulalltag, Boten der Freiheit und der Sehnsucht nach grenzenloser Weite, umweht vom Frühlingsduft parfümierter Sauberkeit, der ihnen auf Schritt und Tritt zu folgen schien.

 

11.

Es sei eine brisante Mischung gewesen, die seinen Schulalltag bevölkert habe, eine schwer durchschaubare Klientel in argwöhnisch beäugter Quarantäne, von innen bedroht und von außen bedrohlich, als kritische Masse nur einen Dominostein vom kettenreagierenden Zerfall entfernt. Die Angst vor Verrat, vor der Zerstörung eines prekären Gleichgewichts durch bösartige Willkür mag im Schulbetrieb unter den Erwachsenen allgegenwärtig gewesen sein. Von persönlichem Leid, das aus dem Dunkel der Verhältnisse entstanden und ins Leben ihm nahestehender Menschen eingebrochen sei, könne er aus seiner Sicht als junger Schüler bis zu seiner Ausreise in den Westen in der Mitte des Jahres 1980 nicht berichten. Natürlich seien Vorsicht und Schweigsamkeit die Schutzhüllen für ein weitgehend unbehelligtes Leben und ein sicheres Durchkommen nicht nur im Schulalltag gewesen. Es habe sich schon frühzeitig eine zähe Membran stiller Wachsamkeit um ihn gelegt, mit der er bis heute fest verwachsen sei, die sich nie von ihm gelöst, von der er sich nie gehäutet habe. Und doch gehörten die Tage der Kindheit und frühen Jugend in Bukarest rückblickend zu den besten Zeiten seines Lebens, erfüllt von hellen Entdeckungen und dunklen Geheimnissen und den Rätseln des Erwachsenwerdens unter Menschen, die sich bedrängt durch den Entzug geistiger Freiheit und gebeugt von staatlich verordneten Entbehrungen einander zugewandt und in den weitaus meisten Fällen ihren Alltag ohne Verstrickungen in das System zu meistern suchten. Er habe als Angehöriger der deutschen Minderheit im alltäglichen Miteinander großstädtisch durchmischter Nationalitäten zu keiner Zeit unter rassistisch motivierter Ablehnung, boshafter Ausgrenzung oder hasserfüllter Missgunst gelitten und glaube das ebenso auch von allen anderen Mitgliedern seiner Familie behaupten zu können. Man sei ihm im Gegenteil mit respektvollem Entgegenkommen und einer offenherzigen Achtung begegnet, die er selbst nicht verdient, aber der Abstammung aus einer in weiten Kreisen bekannten Künstlerfamilie zu verdanken hatte. Es sei eine bewundernswerte Fähigkeit der eigentlich weltoffenen Rumänen gewesen, die wachsende Unterdrückung durch das menschenfeindliche Regime im Fluidum südländischer Lebenslust und den unverwüstlichen Ritualen vielschichtiger Traditionen aufzulösen und sich, solange sie eben konnten, durch Zuwendung und Zusammenhalt im Kleinen der rohen Kandare der repressiven Obrigkeit zu entwinden. Die Kräfte seien freilich begrenzt gewesen und er wisse, nicht aus eigener Erfahrung, aber aus den späteren Berichten seiner ehemaligen Schulkollegen, dass die bis ins Unerträgliche zunehmende intellektuelle und materielle Verelendung vor allem in den Jahren vor dem gewaltsamen Umsturz zu einem selbstzerstörerischen inneren Rückzug, einer verbissenen Gleichgültigkeit gegenüber dem Unfassbaren und einer Gier nach Befreiung durch hemmungslose Tabubrüche und die Übertretung moralischer Grenzen in allen Schichten der Bevölkerung geführt habe.

 

12.

Er spreche hier von den Entwicklungen des wahren Lebens, um die er heute vom Hörensagen wisse, die mit dem Erlebten in seiner Kindheit aber keinerlei Berührungspunkte haben. Es habe aber auch ein für ihn selbst greifbares Leiden gegeben, verursacht durch die Strafen für Wohlstand und Deutschsein, die das Große und Ganze der Geschichte seiner Familie auferlegt und in den Schicksalen ihm nahestehender Menschen erfahrbar gemacht habe. Zu seinen frühesten Erinnerungen gehören die Erzählungen um seine Urgroßmutter, die er zwei- oder dreimal im Hause seiner Eltern erlebt und noch im Vorschulalter einmal im Banat besucht habe. Sie sei die Großmutter seiner Mutter gewesen, eine kleine, lebhafte Frau und pragmatische Überlebenskünstlerin, die im Alter von über 80 Jahren mit ihm noch Badminton gespielt habe und schon früh in ihrem Leben aus den Kreisen des österreich-ungarischen Großbürgertums durch Kriegswirren, Verfolgung und Enteignung in die Rolle einer fast mittellosen, um den Zusammenhalt ihrer Familie kämpfenden Witwe gedrängt worden sei. Mit einer ihrer drei Töchter, die sie nach dem vorzeitigen Tod ihres Mannes allein durchgebracht habe, sei sie nach dem zweiten Weltkrieg in einem namenlosen Banater Dorf untergekommen. Das winzige Haus sei ihm gut im Gedächtnis und seine, wenn auch statischen, so doch erstaunlich detailtreuen Erinnerungen zeichnen noch heute das Bild eines grünen, wilden, aber auch praktisch kultivierten Gartens, in dem das kleine Wohnhaus, fast verloren in einer Ecke des Grundstücks, das Tor zu einer längst versunkenen Welt geöffnet habe. Eine verwitterte Steintreppe in leichter Schräglage habe zur Haustür geführt, die Einlass zur Küche gewährte, dem einzigen Zugang zu den dahinter liegenden Wohnräumen. In jenem Sommer, als er mit Mutter und Vater und einer seiner Schwestern zu Besuch gewesen sei, habe seine Urgroßmutter gemeinsam mit ihrer unverheirateten Tochter, einem sprichwörtlich alten Fräulein, in einer kleinen Kammer geschlafen und das Wohn- und Schlafzimmer den Gästen überlassen. Er fühle bis heute den kühlen Schauer, den er beim Anblick dieser ungewöhnlichen Räume empfunden habe und als sei es gestern gewesen, könne er der seltsam ergreifenden Atmosphäre nachspüren, die ein Gefühl dichter Verlorenheit in ihm geweckt und tief in seiner Seele vergraben habe. In der Enge zwischen alten Familienporträts, ungezählten Büchern in geheimnisvoller Schrift und einem üppig geschwungenen Sofa, das sich mit einem riesigen schwarzen Flügel um den kaum vorhandenen Platz stritt, sei er nicht nur einmal über einen feinen Perserteppich gestolpert, der sich, an der Stirnseite des Zimmers dick aufgerollt, nie mit den erzwungenen Beschränkungen im allzu kleinen Quadrat der guten Stube abgefunden hatte. Erst viel später, als das kindliche Staunen verflogen und der unzufriedenen Neugier der Jugend gewichen sei, habe er verstanden, dass in der vollgestellten Wohnung seiner Urgroßmutter der Verlust sein Zuhause gefunden hatte, der endgültige Abschied vom unwiederbringlich Vergangenen, von einer versinkenden Identität, deren Nachhall in einem konzentrisch auslaufenden Wellenmuster selbst die Generation nach ihm schon nicht mehr würde erreichen können. Und dann sei da noch sein Onkel väterlicherseits gewesen, deutlich älter als sein Vater und nach dem zweiten Weltkrieg, mit 17 Jahren, gerade alt genug, um eines Tages von zu Hause abgeholt und in ein russisches Arbeitslager verschleppt zu werden. Er sei heute noch am Leben, ein uralter Mann in seinen Neunzigern, der mit wachem Geist und hintergründigem Humor immer noch, oder heute erst recht, von der zerstörerischen Qual im Gulag berichten könne. Über den endlos sich wiegenden Atem des Leids, das rhythmische Auf und Ab des Elends sei viel gesagt und noch mehr geschrieben worden. Aus den Erinnerungen seines Onkels gebe es dem kaum etwas hinzuzufügen – außer dem Bild seiner Rückkehr, einer endlosen Reise mit dem Zug, auf der er hungernd seine Schuhe für Brot eingetauscht und sein Zuhause nach unsäglicher Strapaze verlaust, verwurmt und bis auf die Knochen abgemagert erreicht habe.

 

13,

Die Erinnerung an seine Kindergartenzeit sei eine Aneinanderreihung loser Fragmente verbunden durch das Bild einer alten, irgendwie verwinkelten Gebäudegruppe, die sich Schule und Kindergarten teilten. Er könne es nach all den Jahren nicht beschwören, meine aber einen gemeinsamen Innenhof im Gedächtnis zu haben mit einem, wie ihm damals schien, großen Sandkasten, der durch eine Umzäunung abgetrennt den Jüngsten vorbehalten und für die in Sichtweite tollenden Schulkinder tabu gewesen sei. Die Erzieherinnen seien „Tanten“ in gestärkten weißen Schürzen und die Schar ihrer Schützlinge nach Alter einer „kleinen“, „mittleren“ oder „großen“ Gruppe zugeteilt gewesen. Er habe am Morgen seinen Mantel oder seine Jacke am immer gleichen, mit einem bunten Symbol markierten Kleiderhaken aufgehängt, die Straßenschuhe in erkennbarer Nachbarschaft dazugestellt und sei in seltsam weichen Hauspuschen durch das Gleichmaß einer wohlorganisierten Alltagsroutine getappt. Er könne sich an kein herausragendes Ereignis erinnern, kein Fehlverhalten und keine Tränen, aber auch an keinen besonderen Spaß, an keine Ausgrenzung, aber auch an keine bindende Freundschaft, kein außergewöhnliches oder nachhaltiges Erlebnis – bis zu dem Tag, an dem er im Gang vor seinem Gruppenraum seinem Schicksal begegnet sei. Sie sei wie aus dem Nichts erschienen, ein kleines Mädchen, wenngleich, wie er später herausfand, nur unwesentlich jünger als er, zierlich und doch irgendwie rund mit den Nudelfingerchen eines Kleinkinds und langen, dunklen Haaren bis zum Po. Sie sei plötzlich vor ihm gestanden, ob sie absichtlich seine Nähe gesucht oder zufällig einen Platz neben ihm gefunden habe, könne er nicht mehr sagen. Der Moment habe sich fest in sein Gedächtnis gebrannt, wenn auch ohne die Kulisse der umgebenden Wirklichkeit, er wisse nicht, wie er in die Situation geraten und auch nicht, wer an der Szene sonst noch beteiligt gewesen sei, er wisse aber genau, dass er in das runde Gesicht einer sommersprossigen Puppe, in die goldgesprenkelten Murmelaugen eines unirdischen Wesens geschaut habe, das ihn unverwandt und mit kühler Neugier gemustert, dann, nach einem schier endlosen Augenblick, das Patschhändchen gehoben und ihm mit ungebremster Wucht eine schallende Ohrfeige versetzt habe. Er könne sich genau an den Moment erinnern, es sei ein vollkommenes Geschehen gewesen, das genau so und nicht anders habe kommen müssen, ein geschlossenes Ereignis, das er in seiner Unbedingtheit bewegungslos und ohne Abwehr, ohne Schmerz, Ärger, ja selbst ohne Überraschung hingenommen habe, ein richtungsgebender Impuls für die Wogen der Wahrscheinlichkeit, die erst Jahre später, am 15. Oktober 2020, in der Wirklichkeit einer viel größeren, kaum fassbaren Tat verebbt seien.

 

14.

Das Ende der Aufzeichnung hob die Sitzung auf. Im Hier und Jetzt sollten Dr. K. und sein Proband ihre Plätze geräumt und den Rückweg in die Wirklichkeit des stillen und drückend heißen Sommernachmittags freigegeben haben. Allein, die beiden zögerten, wendeten sich ab und konnten sich dennoch nicht entschließen zu gehen, und als sie endlich draußen waren, blieb im tanzenden Sonnenlicht des Vorabends ein Schatten zurück, dessen Umriss zäh zerlaufend in mein Gedächtnis floss und längst vergessen geglaubte Bilder aus meiner Erinnerung spülte. Ja, es ist genau so und nicht anders gewesen, ein kleiner schneller Streich, ausgeführt mit kaltem Blut und ohne Skrupel, ohne das hinderliche Bemühen um einen Grund und ohne jegliche Gedanken an die Konsequenzen, der mich damals, an meinem ersten Tag im Deutschen Kindergarten in Bukarest, geradewegs in die für Übeltäter reservierte Ecke geführt hat. Vom Gruppenraum abgewandt, mit Blick auf die geweißte Wand in dem alten Gemäuer hatte ich meine unvermittelte, hinterhältige Tat zu überdenken und vor aller Augen Buße zu tun, soweit ich das konnte. Der Gedanke der Reue war mir gleichwohl fremd und wollte sich auch nicht einstellen, die strafende Maßnahme am offenbar von allen anderen gefürchteten Pranger schien mir damals eher befremdlich als peinlich. Selbst an jenem heißen Tag, im Sommer vor zwei Jahren, als die schlafenden Hunde geweckt und mir dicht auf den Fersen waren, und auch heute, während ich hier sitze und diese Geschichte aufschreibe, ist die Einsicht der Schuld nicht in mein Bewusstsein gedrungen, und mit Georg D. bin ich mir einig, dass mein unvermittelter Übergriff weder bösartig, noch verletzend, hinterhältig oder aggressiv, sondern rundheraus notwendig und unausweichlich war, das Ausrufezeichen hinter einer Aufforderung, die noch niemand formuliert, der noch niemand einen Namen gegeben hatte.

 

15.

Im Rückblick auf meine Kindheit verschwimmen die Bilder von Leben, Vorstellung und Traum: Ein alter Nussbaum zwischen grauen Plattenbauten, ein schmaler Pfad zwischen Schneewänden, höher als ein sechsjähriges Kind, Zigeuner, hoch auf ihren pferdebespannten Planwagen, beim Altglassammeln lauthals ihr Geschäft ausrufend, die immer gleichen Parkspaziergänge, Grissini essend an der Hand meines Großvaters, die fahlen Züge der Vergänglichkeit im Gesicht der toten Nachbarin und ihre Familie, ganz in Schwarz, bei offener Wohnungstür das klebrig-süße Leichenmahl an jeden Vorbeikommenden verteilend, das sich windende Huhn, auf dem Markt lebendig gekauft und mit kaltem Blut für den Suppentopf geköpft und gerupft, das Mittagessen mit ungeliebtem Lammfleisch im Hause meiner besten Freundin, Scharen verwilderter, eigenwillig freiheitsliebender Katzen, hier und da tot im Straßengraben liegend, eine Fahrt mit dem Bummelzug ans Meer und Ferien mit sandverstopften, entzündeten Ohren, ein grünglänzender Frosch in meiner Hand oder in einem verwilderten Garten, eckig lachende, hell aufblitzende Sterngesichter am Nachthimmel der Karpaten, aus einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum herüberblickend, mein ewig abwesender Vater, als Ingenieur unterwegs in Deutschland, Frankreich, Syrien oder dem Libanon, meine an allem leidende Mutter und an ihrer Hand der Beginn eines neuen Lebens mit einem einzigen Koffer für uns beide an einem winterkalten Vorweihnachtstag im Bahnhof von Wien – eine Zeit imaginierter Wirklichkeit und in die Realität ausgreifender Träume, voller Rätsel und Geheimnisse, die größer sind als der Verstand, auf immer ungelöst und doch unerschütterlich wahr als Kern des Lebens und Mittelpunkt des Seins, selbst dort noch gültig, wo das Altern zur Schande, die Sinnsuche zur Selbstverpanzerung in rollendem Blech, der Tod zur Beleidigung, der Genuss zum massentierquälenden Alltagsgeiz, die Freizeit zum eingezäunten All-inclusive-Drill, die Strategie zum Betrug und der Anspruch an Menschlichkeit zur gesellschaftlich legitimierten Intrige geworden ist. Einen Beweis, dass sich die Dinge damals, im Deutschen Kindergarten in Bukarest, so zugetragen haben, wie Georg D. sie erlebt und an Dr. K. weitergegeben hat, brauchte ich nicht. Was eine Audiodatei mir zu Beginn des Tages virtuell ins Haus gebracht und ich am Rechner sitzend niedergeschrieben hatte, war in Wirklichkeit eine schon längst erzählte Geschichte und ich brauchte nur ein paar Stufen in das Schlafzimmer meiner Mutter hochzusteigen, um die so fragil wirkende Gestalt des Tatsächlichen aus der Traumwirklichkeit der Erinnerung zu schälen. Irgendwo in einem verstaubten Regal, provisorisch verpackt in einem alten Schuhkarton, musste das Bild der Gewissheit vergraben, der Beweis für das Geschehene aufgehoben sein. Und ja, ich konnte sie finden, viel schneller als gedacht, eine Erinnerung in Schwarz-Weiß, zwar nicht an die Kindergartenzeit, aber an die vierte oder fünfte Schulklasse, an eine Schar blauuniformierter Kinder, für das Klassenfoto auf den Eingangsstufen zum Schulhaus aufgestellt, unter ihnen, am Bildrand fast alle überragend, ein hochgewachsener Junge, mager und knochig mit unzähmbaren schwarzen Locken, dichten finsteren Augenbrauen und der kantigen Stirn eines alten Mannes. Sein Blick ruht seitlich in der Gruppe, eine gerade Linie stiller Aufmerksamkeit, verknüpft mit einem Punkt schräg unter ihm, verankert in der Spiegelachse meiner kindlichen Gestalt, in der fließenden Plastizität einer unfertigen Form, zierlich und doch irgendwie rund, einem großen Fragezeichen gleich, mit weichen, unsportlichen Gliedmaßen, den Nudelfingerchen eines Kleinkinds und langen, dunklen Haaren bis zum Po.

 

16.

An jenem heißen Tag im Sommer vor zwei Jahren zerfloss die Zeit in einem Raum ohne Richtung. Das Warten, verharrend im Sein, aber vorausschauend auf das, was noch nicht ist, hatte seine Substanz, das Zukünftige seine Gültigkeit als Kommendes verloren. Die Möglichkeit, auf den Zielpunkt der Geschehnisse vorauszublicken, ein Konzept des linearen Zeitverlaufs, war im Wirbel der Gleichzeitigkeit von Werden, Sein und Gewesen aufgelöst. Da war kein vermutendes Vorausschauen, kein aufmerksamkeitsraubendes, vom Alltäglichen ablenkendes Grübeln über Wahrscheinliches oder Mögliches, keine Unruhe und kein Streben, nur das frei treibende Jetzt, ein Punkt ohne Koordinaten im Kontinuum der Existenz, ein fluider Raum, in dem, was mir als Kommend bevorstand, sich für Dr. K schon zum Gegenwärtigen geformt und für Georg D. längst zur Vergangenheit verhärtet hatte, zum unveränderlichen Bild des Gewesenen, dem rückwärtsgewandten Blick noch offen, aber von keiner Hand mehr erreichbar, von keinem menschlichen Willen mehr formbar. So wie ich damals nicht wartete, könnte ich heute nicht sagen, wie lange es dauerte, bis die nächste Nachricht von Dr. K. mich erreichte. Es war klar, sie würde kommen, meine Arbeit war ein Einsatz in Episoden, ein allmähliches Voranschreiten von Ereignis zu Ereignis im Schatten eines streng strukturierten Verfahrens, dessen Regeln ich nicht festgelegt und dessen Ablauf ich nicht durchschaut hatte. Wie weit ich von meiner Position auf dem Spielfeld würde vorrücken können, hing von den Zügen meiner Mitspieler ab und wurde in einer anderen Welt ausgewürfelt. Es mögen fünf, vielleicht auch zehn Tage vergangen sein, bis eine weitere Audiodatei in meinem E-Mail-Postfach lag, und in der Distanz zwischen dem einen Spielzug und dem nächsten war nicht die Zeit die trennende Dimension, sondern der Abgrund zwischen zwei Existenzräumen, in denen unterschiedliche Regeln das Maß für ein gültiges Bewegungsmuster festlegten. Denn was den Arbeitsrhythmus von Dr. K diktierte und durch virtuelle Räume in mein Leben diffundierte, war der Daseinskontext von Georg D., seine nach einer rätselhaften Tat verordnete Lebenswirklichkeit hinter undurchdringlichen Gefängnismauern.

 

17.

Biografische Angaben

Beim zweiten Besuch in der JVA in F. trifft der Gutachter den Probanden krank an. Er leidet an einer fiebrigen Erkältung, seine Nase läuft, er hustet, die Stimme klingt belegt. Der Gutachter schlägt vor, den Termin zu verschieben, es besteht noch keine Eile, es drängt keine behördliche Vorgabe, es ist im Gegenteil wichtig, sich Zeit zu nehmen, das Gespräch konzentriert und mit freiem Kopf zu führen, damit die Erinnerung verlässlich ist, der Bericht möglichst viele der offenen Fragen beantwortet. Der Proband wehrt energisch ab, fast als fürchte er das vorzeitige Ende des Gesprächs, beteuert er, sich gar nicht so schlecht zu fühlen, „Ich möchte unser Treffen jetzt auf keinen Fall abbrechen, es liegt mir daran, wie geplant fortzufahren, es bekäme mir viel weniger gut, Sie jetzt gehen zu sehen, ohne Ihnen weiter berichtet, Ihnen den nächsten Teil meiner Geschichte vorgelegt zu haben, so wie ich es mir vorgenommen und eingeteilt habe, um in der verbleibenden, in der mir zustehenden Zeit alles Wichtige zu sagen, also alles, was gesagt werden muss, was nicht ungesagt bleiben darf, auch wenn es nichts erklärt und nichts entschuldigt.“ Er wolle genau an der Stelle fortfahren, an der er seinen Bericht habe abbrechen müssen. Seit der letzten Sitzung sei er in Gedanken immer wieder zu jenem Ereignis in seiner Kindheit zurückgekehrt, zu jenem Tag im Deutschen Kindergarten in Bukarest, der ihn zum Leben erweckt, der ihm den Geschmack des Wahrhaftigen auf die Zunge gelegt habe. Mit der Ohrfeige und der anschließenden Bestrafung seiner Angreiferin, die sich vor aller Augen zum Schämen in eine Ecke habe stellen müssen, sei der Vorfall nämlich noch nicht ausgestanden gewesen. Ihre unumgängliche Fortsetzung habe die Episode vielmehr Stunden später gefunden, als zur Abholzeit am Nachmittag, pünktlich und auf die Minute genau, seine Mutter im Kindergarten erschienen sei. Er habe, soweit er sich erinnern könne, seinen Kindergartenalltag stets gelassen gemeistert und sich angstfrei von seinem Zuhause gelöst. Wer auch immer ihn morgens in den Kindergarten gebracht habe, er habe seine Begleiter stets ohne die Furcht vor Verlust oder Verlassenwerden gehen lassen und habe sich ohne weitere Umstände in eine berechenbare Routine begeben, die er mit einer gewissen Genugtuung allein und ohne die Unterstützung seiner Familie meistern zu können glaubte. Und doch habe er sich stets auf den frühen Nachmittag gefreut, wenn sich die nach und nach hereinströmenden Mütter, Väter, Großeltern, Onkel oder Tanten zur Abholzeit im Flur versammelten, nach ihren Kindern, Enkeln oder Nichten Ausschau haltend, unter ihnen meist seine Großmutter oder sein Großvater, die Schwester seiner Mutter oder seine eigene, älteste Schwester und manchmal sogar seine Mutter, die, wie an jenem Spätsommertag im August, nur ausnahmsweise um diese Uhrzeit abkömmlich war und sich zu kurzen Plaudereien unter die Wartenden mischen konnte. Er habe gewusst, dass seine Mutter ihn abholen würde, es sei schon am Morgen in der Familie so besprochen worden, aber anders als sonst wollte sich nach dem Vorfall am Vormittag nicht die übliche, freudige Erwartung einstellen, stattdessen spürte er ein leises, irritierendes Kribbeln auf der Haut, einen kühlen Luftzug entlang der Wirbelsäule und ein Rumoren im Unterbauch verursacht durch die Gewissheit des zu erwartenden Nachspiels, fast als sei er selbst der Übeltäter gewesen, als habe er selbst schuld an dem Vorfall, der den ganzen Tag, auch für völlig Unbeteiligte, Gesprächsstoff geliefert hatte und als habe er nun allein die enttäuschte Überraschung und das forschende Unverständnis der Erwachsenen zu ertragen. Den genauen Hergang nach dem Eintreffen seiner Mutter könne er heute nicht mehr rekonstruieren. Ihm sei aber so, als habe man die Übeltäterin seiner Mutter regelrecht vorgeführt, sei es, weil es nach wie vor nicht gelungen war, den Gründen für die Tat auf die Spur zu kommen und man sich durch die Konfrontation einen entscheidenden Impuls für die Gesprächsbereitschaft des Mädchens erhoffte oder sei es, weil man ein Bewusstsein für die Schwere der Verfehlung schaffen, ein aufrichtiges Bedauern und den Sinn für die Notwendigkeit einer Entschuldigung wecken wollte. Wie dem auch sei, es sei also zur unvermeidlichen, von ihm ängstlich erwarteten Begegnung gekommen, deren Dauer er heute nicht mehr nahvollziehen, deren Intensität er aber über all die Jahre unvermindert nachspüren könne. Im etwas schummrigen Kindergartenflur seien sich die zwei also begegnet, seine Mutter sitzend, auf einer niedrigen, für Kinder gebauten Bank, das kleine Mädchen stehend ihr gegenüber, die Gesichter der beiden so nah beieinander, dass es ihm damals schien, als müssten sich ihre Nasen berühren, wenn nur eine von ihnen sich wenige Zentimeter vorbeugte. So wie einige Stunden zuvor, als er die Ohrfeige kassiert habe, schien ihm auch in jenem Augenblick die Kulisse des Geschehens zu verschwimmen, und in der Rückschau gleiche die Wahrnehmung des Moments einem Blick in einen dunklen Tunnel, an dessen Ende sich die Schatten der beiden Protagonistinnen in einem fahlen Licht fast gleich groß abzuzeichnen schienen, ja, er müsse es so sagen, im Nachhinein wirke die Szene auf ihn wie eine ebenbürtige Begegnung von Frau zu Frau, und bis heute halte er unverbrüchlich an dem Glauben fest, dass dieses kleine Mädchen schon damals verstanden hatte, dass das Leben einem jeden von uns zuerst eine Frage stellt, bevor es Antworten gibt, und dass der Aufmerksamkeit, ja der Achtung nur jene wert seien, die diese Frage gehört, verstanden und im besten Fall die Antwort darauf aus dem Strom des Daseins schon geborgen haben. Er habe eine alterslose Unerschrockenheit im Wesen dieses Kindes zu erspüren geglaubt, einen unwiderstehlichen Sog, der einen über den Ereignishorizont des gewollten Seins hinaus in die Singularität der nackten Existenz katapultierte. Von seinem kindlichen Instinkt gewarnt, habe er in der Gegenüberstellung kein Mittel der Deeskalation, sondern den Ursprung eines unlösbaren Konflikts gesehen. Er habe sich dringlich gewünscht, die prekäre Lage irgendwie abwenden zu können, sei es, weil er seiner Mutter die Erfahrung einer übergriffigen Indiskretion oder aber sich selbst das Erlebnis ihrer Reaktion darauf habe ersparen wollen. Der Fortgang der Geschichte sei gleichwohl nicht mehr aufzuhalten gewesen. Sie seien nun also dagesessen, Aug in Auge, beide aufmerksam und neugierig, beobachtend ineinander vertieft, der Moment der Konfrontation endlos gedehnt, durch den Messpunkt seiner Aufmerksamkeit fließend, vorbei am schmalen Durchlass zwischen Vielleicht und Genauso, dahinter Schrödingers Katze oder Aladins Geist, beide da und nicht da, weder tot noch lebendig oder beides zugleich. Er selbst sei es gewesen, der zudringlich prüfend die überladene Ungewissheit zwischen den beiden erst in die Wirklichkeit einer Haltung gezwungen habe, und rückblickend meine er damals schon erspürt zu haben, dass ohne seine konzentrierte Präsenz alles einen anderen Ausgang genommen, sich nie dieses seltsame Einverständnis zwischen den beiden Kontrahentinnen eingeschlichen und das funkelnde Licht schelmischer Freude im Gesicht seiner Mutter entzündet hätte. Ja, es sei den beiden die Genugtuung eines lautlosen Sich-verstehens förmlich anzusehen gewesen, das Vergnügen einer partikularen Übereinkunft, die alle anderen drumherum, vor allem aber ihn selbst, ausgeschlossen und mit elitärer Attitüde der Verständnislosigkeit preisgegeben habe.

 

18.

An umständlich errichtetem Gestänge vollführen wir Menschen im Weltzirkus unsere mühsam erlernte Trapezkunst. Für unsere angestrengten Figuren suchen wir Halt an filigran zusammengesteckten Schaukeln und trachten mit zitterndem Eifer danach, aus dem eng umgrenzten Kegel des Scheinwerferlichts in das unbekannte Dunkel der Zirkuskuppel vorzudringen. Mit ungelenk verknoteten Seilen und klebrigem Magnesium an den Händen versuchen wir dem Sturz in die Tiefe vorzubeugen. Was uns in luftiger Höhe vor dem endlosen Fall absichern soll, fesselt gleichzeitig unsere Erkenntnisfähigkeit. Das sanft federnde Netz der Zeit in der Unendlichkeit des Universums unter uns liegt weit außerhalb unseres Wahrnehmungshorizonts. Nie werden wir seine Tragfähigkeit, die Sicherheit seiner elastischen Schwingung ermessen können. Im Traum ahnen wir unsere Begrenzung. Wenn wir wach sind, manövrieren wir uns akribisch immer weiter in unsere Verständnislosigkeit hinein.   

 

19.

Unsere Realität ist das, was wir selbst in die Dinge hineintragen, so sagen es uns geübte Denker, und die Erzählung von Georg D. führt vor, was längst keines Beweises mehr bedarf. Irgendwo im Lauf der Ereignisse, damals im Bukarest der Siebzigerjahre, an jenem denkwürdigen Vormittag im deutschen Kindergarten, schon bald nach meinem tätlichen Übergriff oder sogar im Moment des Geschehens selbst muss sich die Wirklichkeit kaleidoskopisch aufgesplittert und uns für niemanden erkennbar in unterschiedliche Dimensionen geführt haben. Was Georg D. als lebensentscheidend im Gedächtnis geblieben ist, habe ich selbst kaum noch in Erinnerung, und der dramatisch aufgeladene Moment der Begegnung mit seiner Mutter wirkt wie ein rätselhafter Einakter, aufgeführt für nur einen Zuschauer, mit Darstellern, von denen die Welt nie wieder etwas gehört hat. An die Szene, die er schildert, kann ich mich nicht mehr erinnern. Außer der Ohrfeige selbst und der Zeit in der Büßerecke hat jener Tag mir keine Bilder ins Leben mitgegeben. Wohl aber war er ein Anfang, der Beginn einer tiefen Verbundenheit, die die Lebensreserven für das Gefühl der Freundschaft beinahe vollständig aufgebraucht hat.

 

20.

Meine Erinnerungen an Georg D. sind vereinzelte Lichtreflexe auf den Wellenkämmen der Zeit. Ein kontinuierliches Geschehen kann ich meinem Gedächtnis nicht mehr entlocken. Der Weg zu unserer nächsten Begegnung führt durch die Leere des Vergessens in eine überfüllte Wohnung der Bukarester Innenstadt. Nach einer langen Fahrt mit dem Trolleybus oder der Straßenbahn klettere ich mit meiner Mutter die Stufen in einem breiten Stiegenhaus hoch. Von irgendwoher fällt Licht ein, so viel, als bekäme es Durchlass durch eine gläserne Wand. Es mag die Helligkeit des Tages gewesen sein oder einfach nur die künstliche Beleuchtung oder ein trügerischer Eindruck, so tief, dass er mir bis heute gegenwärtig ist. Die Treppe führt uns hoch, in die erste oder zweite Etage eines mehrstöckigen Wohnblocks. In jedem Stockwerk schlummern hinter geschlossenen Wohnungstüren fremde Universen und eines davon öffnet sich für uns. Es ist eine enge Welt, mit viel Stoff, Polstern, Teppichen und massigen Schränken. Schmale Gänge, in denen man sich kaum umdrehen kann, führen in üppig möblierte Räume, schwere Vorhänge verstecken geheimnisvolle Ecken, in denen sich türmt, was nirgendwo sonst mehr Platz gefunden hat. Aus jedem Winkel lacht das Unbekannte der kindlichen Neugier ins Gesicht und hinter halb offenen Zimmertüren lockt das Geheimnis mit flüsternder Stimme. Ich kenne diesen Ort von wiederholten Besuchen, mitten im Wohnzimmer auf einem dicken Teppich, steht eine Chaiselongue, mit weißen Tüchern bedeckt, kein Platz für schläfriges Entspannen, sondern eine Folterbank für die Schönheit. Auf kleinen Tischchen verteilt wartet ein befremdliches Instrumentarium auf seinen Einsatz, und das Prozedere, mit dem die fein manikürte Dame des Hauses meiner Mutter zu Leibe rücken wird, folgt stets dem gleichen, ebenso irritierenden wie faszinierenden Ritual. Mit flinken Fingern, heißem Wasserdampf und einer geheimnisvollen, von knisternden Blitzen durchzuckten Lampe wird hier das Gesicht meiner Mutter traktiert, ein rigoroses Programm gegen Falten und schlechte Haut, luxuriös inszeniert im unbeirrbaren Kampf gegen alltäglichen Mangel und Verdruss, privat organisiert im nonchalant eingerichteten Hinterzimmer einer rapide verkümmernden, vom Staat diktierten Einheitswirtschaft. Wie immer ist mein Platz etwas abgerückt in einem alten Fauteuil, tief eingesunken auf alten Polstern, die kurzen Kinderbeine fast ausgestreckt auf der ausladenden, vielleicht für einen Pfeife rauchenden Herrn gebauten Sitzfläche. Mein Blick fällt von schräg hinten auf das Kopfende des Behandlungsplatzes und das halb von einem steilen Handtuchturban verdeckte, bedenklich gerötete Gesicht meiner Mutter. Das sonore Ticken einer Uhr schiebt dem sanft fließenden Nachmittag in gleichmäßigem Takt Minute um Minute unter. Vor mir geht die Kosmetikerin ihrem Handwerk nach, eine tiefe Furche von der Nasenwurzel bis hinauf auf ihre Stirn spricht von höchster Konzentration und doch kann sie ihre geschätzte Kundin in monotonem Erzählton mit leichten, geheimnislosen, auch für Kinderohren unbedenklichen Geschichten unterhalten. Ich höre die Worte rauschen und lausche dem leisen Schritt der heranschleichenden Langeweile bis sich Madame R. hellsichtig von ihrer Arbeit löst und mir ihre Aufmerksamkeit zuwendet: „Möchtest du etwas naschen?“, fragt sie mich mit einem prüfenden Blick über den Brillenrand, wartet mein zögerliches Nicken gar nicht ab und verschwindet in ihrer Küche. Zwischen meiner Mutter und mir herrscht Schweigen, mit Ohren und Nase sind wir Madame R. gefolgt, die in ihrem alchimistischen Labor klappernde Geräusche und heiße Mokkadüfte produziert. Sie braucht nicht lange, sie ist geübt und kommt mit einem kleinen silbernen Tablett ins Zimmer zurück. Meine Mutter bekommt in bequeme Reichweite ein winziges weißes Tässchen serviert, nur halb mit einem karamellfarben dampfenden Kaffeedestillat gefüllt. Die Zwillingstasse gehört Madame selbst, Halbzeitbelohnung für ihre Mühen und kraftspendendes Konzentrat für den Rest der Stunde. Für mich steht auf dem Tablett ein Glastellerchen bereit, darauf der rötlich-zähfließende Klecks einer klebrigen Süßigkeit, die mir unter dem Namen Șerbet bis heute gut in Erinnerung ist. Ohne das dazugehörige Glas Wasser praktisch ungenießbar ist die zuckerige Masse in ihrer Konsistenz so komprimiert und in ihrer Wirkung mindestens so auftrumpfend wie das starke Kaffeegetränk. Der Geschmack, zusammengezurrt auf eine überwältigende Süße, lässt vom Charakter der verarbeiteten Früchte kaum noch etwas ahnen und es bleibt nichts anderes übrig, als die eingedickte Masse tröpfchenweise von einem kleinen Löffelchen zu schlecken. Bei aller Mühe kann ich nicht verhindern, dass plötzlich meine Fingerspitzen kleben und die Wärme der Haut den zähen Sirup fließen lässt. Zwischen meinen Fingern und in der leicht schwitzigen Handfläche laufen feuchtwarme Rinnsale Richtung Ärmel und Möbelstoff. Ich stelle den Teller ab und bitte, zur Toilette gehen zu dürfen, die ich hier nicht zum ersten Mal besuche. Was immer ich damals im Bad getan haben mag, die Wirkung gegen die klebenden Schlieren in meiner Hand blieb unbefriedigend. Ich kann nicht mehr jeden Moment bis zu unserem Aufbruch aus der Wohnung rekonstruieren, ich kann mich aber gut an den Augenblick des Abschieds erinnern, als meine Mutter, Madame R. und ich schon das Wohnzimmer verlassen und im engen Flur angekommen waren und es plötzlich an der Türe läutete. „Ah, mein nächster Termin!“ sagt die Hausherrin und greift schon nach der Türklinke, „Ich vermute Sie kennen sich.“ Und im nächsten Augenblick steht da im offenen Eingang, kaum zwei Schritte von mir entfernt, Frau D., deren helle Erscheinung mir beeindruckend, aber völlig unbekannt vorkommt, und hinter ihrem Rücken noch leicht versteckt ihr dunkler Sohn mit seinen langen Gliedmaßen und wilden schwarzen Locken und dem wohlvertrauten, unverwandt fragenden Blick. Im nächsten Augenblick drängen wir uns alle fünf im viel zu engen Flur, suchen mit Trippelschritten den besten Platz in dieser seltsamen Konstellation und wie der Zufall es will, finde ich mich direkt an Georgs Seite wieder und schiebe ohne zu zögern meine immer noch zuckerklebrigen Finger in seine knochige, saubere Hand. Erst als er zudrückt und mich nicht mehr loslässt, wird mir klar, was geschehen ist und obwohl ich die Berührung nicht verstehe und ihre Entdeckung durch die Erwachsenen fürchte, bleibe ich regungslos stehen und vertiefe mich in ein unerhörtes Gefühl, das die Welt aus den Angeln hebt. Wie die Begegnung damals zu Ende ging, wüsste ich heute nicht mehr zu sagen. Irgendwann, wahrscheinlich nur Minuten später, werden wir uns verabschiedet und den langen Heimweg quer durch die Stadt angetreten haben. Was ich aber noch weiß und bis in die Gegenwart nachspüren kann, ist die lebendige, leicht pulsierende Wärme von Georgs Hand, die Sanftheit seiner überraschend zarten Haut, dem flaumigen Gefieder einer Blaumeise gleich, die an einem brütend heißen Tag am Boden vor einem Altglas-Container in die heimtückisch klebrige Falle einer zähen, aus einem geborstenen Einmachglas kriechenden Sirup-Lava geraten ist.

 

21.

Bericht des Gutachters

Seit 16 Tagen ist jeder Besuch bei Georg D. untersagt. Die JVA steht nach Seuchen-Alarm insgesamt unter Quarantäne, niemand geht hinein oder kommt heraus, selbst die Angestellten haben das Gebäude seit nunmehr gut zwei Wochen nicht mehr verlassen und nächtigen in eigens eingerichteten Notfallzimmern. Alle Auswärtigen, die das Gebäude in den letzten 21 Tagen betreten haben, stehen unter der strengen Beobachtung des Staatlichen Gesundheits-Planungsbüros. Auch der Gutachter ist davon betroffen. Auf das nach der dritten pandemischen Krise vom Planungsbüro selbst eingerichtete Sicherheitssystem möchte man sich in der aktuellen Situation nicht mehr ausschließlich verlassen. Obwohl Insassen und Besucher in der Anstalt durch die Gänge und Räume unterschiedlicher Bewegungszonen geschleust werden und einander beim Gespräch getrennt durch eine dicke Glasscheibe begegnen, gilt eine strenge, durch die digitale Aktivitätsbarriere überwachte Ausgangssperre für alle, die sich in den letzten drei Wochen in der JVA aufgehalten haben. Im Telefongespräch mit dem Leiter der Anstalt erfährt der Gutachter Näheres über die Ereignisse seit seinem letzten Besuch, bei dem er D. ja schon krank angetroffen hatte. Man sei zunächst davon ausgegangen, D. leide an einem der hinreichend bekannten Virusinfekte, die seit der ersten Virus-Pandemie im Jahr 2020 immer wieder grassieren. Man habe die übliche Behandlung angeordnet, ohne dass jedoch in der zu erwartenden Zeit eine Besserung eingetreten sei. Der Zustand habe sich im Gegenteil, gewissermaßen über Nacht, dramatisch verschlechtert, und etwa zehn Tage nach den ersten Symptomen sei D. eines Morgens mit vollständig zugeschwollenen Augen in seiner Zelle aufgefunden worden. Der Mann sei schon nicht mehr ansprechbar gewesen, und der Arzt, der sofort zur Stelle gewesen sei, habe hohes Fieber und eine ungewöhnliche Schwellung auch des Mund- und Rachenraums festgestellt. Der Patient habe zunehmend an Atemnot gelitten und sei unverzüglich in die lokal zuständige virologische Basis überstellt worden. Dort liege er nun seit zwischenzeitlich gut vierzehn Tagen, ohne dass ein konkreter Befund an die JVA, geschweige denn eine Stellungnahme an die Öffentlichkeit herausgegeben worden sei. Er habe gleichwohl private Kontakte zum Institut, das eine oder andere sei mittlerweile durchgesickert, und dem Vernehmen nach habe man es hier mit einer erneuten, diesmal aber offenbar besonders aggressiven Virus-Mutation zu tun. Der Patient liege auf der Intensivstation, werde entsprechend den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen behandelt, ohne dass die Therapie jedoch angeschlagen habe, ja man beobachte sogar eine stetige Verschlechterung des Zustands, eine selbst nach den Erfahrungen der zahlreichen zurückliegenden Erkrankungswellen bedrohliche Entwicklung, die den Wissenschaftlern Rätsel aufgebe, die Politik in Panik versetze und der Öffentlichkeit gar nicht erst bekannt werden dürfe. In der JVA sei der Vorfall freilich nicht zu verheimlichen gewesen. Nachdem umfassende Tests ergebnislos geblieben seien, sei das gesamte Haus mit Viren-Spürhunden durchsucht worden – zur Überraschung, ja man könne sagen zum Schrecken aller Beteiligten – jedoch ohne greifbares Ergebnis. Niemand sonst sei infiziert, bei niemand anderem haben sich Symptome einer Viruserkrankung feststellen lassen. Für ihn als Leiter der Anstalt habe das Ganze etwas Geisterhaftes, als würde ein schadenfrohes Gespenst mit dröhnendem Hohngelächter dem fortwährenden Viren-Spuk der vergangenen Jahre nun die Krone aufsetzen, ausgerechnet in seinem Haus und ausgerechnet unter der Beteiligung von D., dieses rätselhaften Kerls, der nie Besuch bekommen, nie den Kontakt zu anderen gesucht und nie wirklich andere Menschen in sein Inneres vorgelassen habe.

 

22.

In meinem alten Leben sind mir Computerprogramme vertraute Begleiter gewesen. Der Variantenreichtum logischer Handlungsmuster war die erste große Überraschung während meiner Arbeit mit maschinell interpretierbaren Algorithmen. Der Weg der Verständigung zwischen Menschen führt hoch hinaus auf den schmalen Grat der Intuition. Die Kommunikation mit der Maschine steigt hinab in die detailtiefen Schluchten der Berechenbarkeit. Ausgehend von einem vollständig verstandenen Startpunkt führen die sequenziell voranschreitenden Verarbeitungsvorschriften guter Software geradlinig zu einem umfassend beschriebenen Ziel. Nichts rechtfertigt die Ausführung eines Algorithmus, außer der stringent begründbaren Notwendigkeit, das gegenwärtig Gültige der Zieldefinition anzupassen. Die Abbruchbedingung gebietet dem Programmablauf dort Einhalt, wo alle Zielvorgaben nachweislich erfüllt sind oder durch Fehler im Ablauf der Absturz droht. Im besten Fall markiert sie den Moment des Eintritts in eine bessere Zukunft. Versprechen sind eingelöst, Ressourcen und Anstrengungen, auf dem Weg zum Erfolg großzügig mobilisiert, werden freigegeben, das System kommt zur Ruhe und pendelt sich in einem optimierten Betriebsmodus ein. Wo die Abbruchbedingung fehlt oder den Ansprüchen der Aufgabe nicht genügt, droht das Chaos unendlicher Überanstrengung. Rechnen wird zum Selbstzweck, bindet und erschöpft Kapazitäten ohne eine hinnehmbare Antwort auf das Warum und jenseits jeder Aussicht auf Vollendung. Der virtuellen Welt entkommen hat sich Unberechenbarkeit längst in den Resten unseres lebendigen Alltags breitgemacht. Im Niemandsland zwischen dem Verlust intuitiver Orientierung und dem Versagen algorithmischer Vernunft treibt schon seit Jahren ein atemverschlingendes Virus die Menschheit in ein unkalkulierbar trudelndes Abwehrprogramm. Ein Grenzgänger im Panoptikum der Daseinsformen, zuhause an der Abbruchkante des Lebens, dreht jedem Vernichtungsversuch eine lange Nase, den die Welt in einem schlingernden Kurs zwischen Panik und Ahnungslosigkeit, nüchterner Wissenschaft, Zweifel und Vermutung, Profilierungssucht und Sensationslust auflegt. In das Kostüm der Vernunft gekleidet wechseln kaum durchschaubare Maßnahmen einander ab und rechtfertigen die Frondienste einer fortdauernden Knechtschaft abwechselnd mit dem Schutz der Jungen, der Alten, des Systems oder des Geldes. Die Forderung nach Berechenbarkeit scheitert an der Selbstlüge über einen Handlungserfolg. Eine Abbruchbedingung für die Abwärtsspirale des Souveränitätsverlusts wurde niemals definiert, war niemals im Zugriff einer glaubhaften Vorstellung von der Zukunft.

 

23.

Die Welt weiß, wohin sie ihre Neuigkeiten lenken muss, damit sie nicht in Sackgassen verkümmern. Mit gutem Grund steht meine Adresse nicht auf ihrer Liste. Wer auf dem Laufenden ist, klingelt nicht an meiner Haustür. Sensationell Neues, das mit wechselnden Namen belegt atemlos um die Häuser hetzt, hat seinen Wert längst im Marktgetümmel eingebüßt, ehe es zu mir durchdringt. Als Verlust ist mir das nie vorgekommen. Was mir aber fehlt, ist die enge Vertrautheit privater Übereinkünfte mit dem Leben, die Exklusivität intimer Absprachen mit Menschen und Geschehnissen, die nur im Ausschluss der Öffentlichkeit Sinn und Bestand haben. Auf der Suche nach Freiheit ist mir die bindende Kraft des vitalisierend Geheimen noch vor meinem 13. Geburtstag an der Hand meiner Mutter im winterkalten Bahnhof von Wien abhandengekommen.

 

24.

Meine Hand, die sich in seine schiebt, ist der Refrain meiner Erinnerung an Georg D. Die Strophen dazwischen sind mir weitgehend entfallen. Ich weiß noch, dass in den alten, mit Zweier-Sitzbänken ausgestatteten Klassenräumen unserer Schule ein Platz in seiner Nähe der Ort war, den ich zäh zu erobern suchte. Es war ein namenloses Streben, das mich zu ihm hinzog, eine stumme Unbedingtheit, die sich nie erklären, ihre Eigendynamik nie begründen musste. Das Ziel meiner Hartnäckigkeit war eine Offenbarung, die sich nicht benennen, mich aber umso ehrgeiziger nach ihrem verborgenen Wesen graben ließ – ein Abenteuer, dessen Seele ebenso die Entdeckung war wie das ewige Geheimnis. Die Menschen um mich herum waren von meinem unbeirrten Streben gänzlich ausgeschlossen, und hätte mich jemand nach dem Empfinden von Georg gefragt, wäre mir das so seltsam wie überflüssig vorgekommen. Im dicht gedrängten Pausenhof, in artigen Zweierreihen unterwegs zwischen dem Klassenzimmer und dem Turnsaal oder auf Schulausflügen in Parks und Museen ging es mir um nichts mehr als die heimliche Berührung unserer Hände.

 

25. Mein Vater war Bauingenieur. Aus einer bäuerlichen Familie Banater Schwaben stammend war er in zweiter Generation akademisch gebildet und ein Mensch, der im Ausweichen geübt, sich nur unter der Hand sprachlicher Kommunikation erreichen ließ. Sei es, weil er sein Zuhause floh, dem Geruch der Freiheit nicht widerstehen oder auf das seltene Privileg, seine Familie mit Konsumgütern aus dem Westen zu versorgen, nicht verzichten konnte, war er ein ewig Reisender, weltweit in großen Bauprojekten unterwegs, an denen zu jener Zeit beteiligt zu sein man dem rumänischen Staat kaum zugetraut hätte. Meine Mutter hingegen wartete. Der Mann, monatelang unterwegs, ließ ihr regelmäßig den übermächtigen Geist seiner Abwesenheit im Haus zurück, der mit Macht und zunehmend unbesiegbar ihr Dasein strangulierte. Ohnehin waren diffuse Leiden die Konstante ihres Alltags, die Zumutungen des Lebens eine fortlaufende Kränkung. Vom Alleinsein zusätzlich gedemütigt, hatte sie sich in eine Opferrolle zurückgezogen, für die sie misstrauisch und wütend zugleich fortlaufend Bestätigung suchte. Trotz allem oder gerade darum blieb sie in allen praktischen Dingen verbissen handlungsfähig.

 

26. Nicht aus Neigung, sondern auf Betreiben meines Großvaters, so ihre Erzählung, war meine Mutter Erzieherin geworden. Der Herkunft nach gehörte sie zur deutschen Minderheit der Siebenbürger Sachsen und stammte aus einer Familie, in der es keines der Mitglieder zu akademischer Bildung gebracht hatte. In ihrem Elternhaus, von meinem Großvater in einem Vorort von Bukarest mit eigenen Händen erbaut, kam man ohne fließendes Wasser aus und das Plumpsklo im Hinterhof verweigerte dem menschlichen Bedürfnis jeden Komfort. Draußen jedoch wogte die überwältigende Vielfalt der Freiheit. Der tiefe, kühle Frische atmende Brunnen im Garten, die zahlreichen Kräuter und Blumen ums Haus, Hühner, Hasen und gelegentlich ein Schwein im Stall sind mir aus meiner frühen Kindheit noch gut im Gedächtnis. Im Haus waren drei schattige Räume wie auf einer Perlenschnur aufgereiht und mussten sich an kalten Tagen die Wärme eines riesigen, zentral platzierten Kachelofens teilen. Die mit bunten Teppichen ausgelegten Böden waren so dunkel wie die klobigen Schränke und Kredenzen an den Wänden und in einer kleinen, als Küche benutzten Kammer, lief man über die blanke Fläche festgestampfter Erde. Von einer Falltür bedeckt führte von dort aus eine steile Leiter in einen finsteren, in die kalte Erde gegrabenen Kartoffelkeller, in dem zweifellos Drachen sich von den eingelagerten Vorräten ernährten, wenn keiner hinsah. Für mich war der Ort eine unhinterfragte Idylle, für meine Mutter eine Zumutung, an der sie trotzig hing und für meinen Vater der Notausgang in die Wahrhaftigkeit, eine gierig ergriffene Chance dem manierierten Umfeld einer Familie zu entkommen, in der seine unverheiratete, von nervösem Schniefen geplagte Schwester und seine meinungslose Mutter sich am Mittagstisch das Fleisch auf ihren Tellern von meinem Großvater in mundgerechte Häppchen vorschneiden ließen.  

 

27. Für den Vater meiner Mutter, beruflich unterwegs in Angelegenheiten der evangelischen Kirche, war sein Zuhause ein Zwischenstopp auf seinen zahlreichen Wegen zu den in Bukarest weit verstreuten Gemeindemitgliedern, bis er eines Tages nach dem zweiten Weltkrieg in ein russisches Arbeitslager verschleppt wurde. Der Familienlegende nach betete er derart inständig um ein Entkommen aus der tödlichen Marter des Gulags, dass der Liebe Gott sich, wenn auch erst nach vielen Monaten, seiner tatsächlich erbarmte und ihm die Erlösung in Form einer rätselhaften Entzündung schickte, die sich von seiner rechten Fußsohle ausgehend in rasendem Tempo in Richtung Unterschenkel ausbreitete. Wie es heißt, sei sein Fuß gewissermaßen über Nacht dick angeschwollen und habe sich unter Schmerzen gefährlich verfärbt, ohne dass sich die Ursache, geschweige denn eine adäquate Behandlung habe finden lassen. Die Verantwortlichen im Lager machten mit meinem Großvater freilich nicht viel Federlesens. Für die Arbeit nicht mehr zu gebrauchen sei er sein tägliches Stück Brot nicht mehr wert gewesen, sodass man ihn kurzerhand in einen Güterzug verfrachtet und auf den endlosen Weg zurück nach Bukarest geschickt habe. Über den Verlauf seiner Heimreise ist mir nie etwas zu Ohren gekommen, und die unglaubliche Geschichte seiner Befreiung geht erst mit seiner Ankunft Zuhause weiter, wo seine Frau mit zwei kleinen Kindern ihn im Überlebenskampf der Nachkriegszeit schmerzlich vermisst, auf seine unversehrte Rückkehr aber kaum zu hoffen gewagt hatte. Es heißt also, meine Großmutter habe sofort angefangen, das unerklärliche Fußleiden ihres Mannes mit euphorischer Tatkraft zu bekämpfen und es seien ihre warmen Kräuterbäder gewesen, die zu aller Erstaunen und Entsetzen nach nur wenigen Tagen einen rostigen sibirischen Nagel aus der aufgeweichten Fußsohle meines Großvaters herausquellen ließen. Nicht dass er die papierenen Sohlen der vollkommen verschlissenen Schuhe hatte durchdringen, sondern wie er sich so vollkommen unbemerkt tief ins Fleisch hatte bohren können, war das große Rätsel und ein unerschöpflicher Quell der Legendenbildung in unserer Familie. Ich habe die Geschichte immer wieder in meiner Kindheit gehört, und obwohl das Ereignis in stiller Post mit immer neuen Ausschmückungen weitergegeben wurde, blieb es doch bei einem unzerstörbaren, tief im Reich der Wunder vergrabenen Kern aus Rost und Knochen.   

 

 

 

 

 

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